Das schicke Wischding

16. Tag, tea time

Vor vierzehn Tagen:

“Und? Was wünscht du dir zum Geburtstag?”

“Ich möchte bitte ein Wischding.”

* * *

Heute hat Granny Geburtstag, heute bekommt sie ein “Wischding”.

Ihr neues Wischding ist auf neuestem Stand, ausgestattet mit iOS 7.1..

Wobei ich bei dieser Feier eher beiläufig entdecke, dass das Dazuzugehören ein kultureller Wert ist. Die Oma beobachtet, wie Menschen insbesondere an Haltestellen Smartphone gucken, wie sie mit Fingern über Displays wischen und will es auch. Wenn alle wischen, muss es irgendwie cool sein.

Natürlich gibt es keine Kompromisse: Sie will genau solch ein Wischding, wie es “alle” haben, “wie du und deine Frau”.

@???

Siehe da: es macht sie glücklich.

Lara pumpt ihr auch noch am Kaffeetisch WhatsApp aus dem Store und ein Pling-Plang-Plong später lese ich Grannys Message:

“Hey there! I am using WhatsApp.”

Wäre Granny Kanzlerin, würde “Wischding” zum Geflügeltem Wort – wäre ich Kanzler, hieße jedes Wischding “Kommunikator”.

Überdurchschnittlichkeit

Frau Wirtin hat auch einen Schmied,
Der besitzt ein Eisenglied.
Um ihr dies zu beweisen
Legt‘ er’s auf den Schienenstrang
Und ließ einen Zug entgleisen.

Jedenfalls hat Granny – die demnächst 79 Jahre alt wird! – ihre Kreditkartennummer auswendig gelernt, nebst zugehöriger PIN. Darüber hinaus kennt sie ihre zehnstellige Online-Banking-Zugangsnummer nebst fünfstelliger PIN und alle EC-Karten- und Handy-PINs.

WOW!


Um mir dies zu beweisen
Holte sie ihr iPad raus
Und fing an, zu überweisen.

„Und?“, fragte ich, „was hast du für eine Geschichte?“, doch Granny verstand diese Frage nicht.

Ich – zum Beispiel – kenne meine Zahlen zwar auch, aber erstens bin ich jünger und zweitens habe ich zu jeder meiner Zahlenfolgen eine Geschichte. Mein Online-Banking-Zugang – beispielsweise – ist eine dampfende Lokomotive (158) mit Tender (9119), dem langsam die Kohlen ausgehen (ein „normaler“ Tender halbvoll Kohlen wäre 9109 – voller Kohlen sähe ein Tender wie 9009 aus) und die durch ein Tal zwischen großem und kleinem Berg (603) hindurch fährt. Eine Mutter nebst Tochter (= große Brüste, kleine Brüste; = 65 62) helfen mir an jeder Cash Machine usw.

Machmal haben meine Ziffern auch eine Melodie. Oder Farben (sechs ist leuchtend rot, acht ist blau) – eineindeutig sozusagen. Eine injektive Denkfunktion. WOGEGEN GRANNYS ZAHLENFOLGEN NICHTS DERGLEICHEN AUFZUWEISEN HABEN. Es sind Soda-Zahlen, sie sind einfach so da. Wofür sie heute von mir ein Doppel-WOW! kriegt.

Genetische Muster

Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.

Faust I – der große Monolog.

Das Erbe ist zugleich ein komplizierter Sachverhalt. Gab es seinerzeit Gefahr, klang die Kehle unserer Ur-Ur-Ur-… @∞ … -Ahnen wie das Quietschen von Kreide an einer Schultafel, weshalb wir heute immer noch Gänsehaut bekommen, wenn wir dieses Geräusch vernehmen.

Und zweitens: Aufmerksamkeit diente immer schon der Erhaltung der Art. Diejenigen Primaten-Babys hatten eine höhere Überlebenschance, denen es stetig gelang, Mutter, Vater oder Gruppe auf sich aufmerksam zu machen.

Wahrscheinlich ist die Akquisition von Aufmerksamkeit ein zentrales genetisches Grundmuster. Ein Missing Link der Menschwerdung. Zu Zeiten heutiger medizinischer Versorgung nicht unbedingt vonnöten – aber vorhanden bleibend. Wie das Steißbein als Rudiment der Schwanzwirbel oder wie die Blinddärme.

Aufmerksamkeit ist ererbte Strategie – das zugehörige Verhalten ist die Taktik. Man braucht nicht unbedingt eine Couch~ manches kann man auch so wissen: Granny – beispielsweise – erfuhr als Kind die größtmögliche Aufmerksamkeit, als sie aufgrund einer Krankheit zu leiden hatte. So lernte sie klagen, ohne zu leiden. Reflexiv sozusagen.

Heute ist ihr Verhalten wie in Stein gemeißelt. Die Betriebskosten sind zu hoch, die Kopfschmerzen zu stark, das Wetter zu kalt – …

Und wenn sie mal nicht traurig ist,
Dann geht es los von vorn.

Reset von Grundlagen der Kommunikation

Der zugehörige Witz geht so:

“Schatz, wir brauchen neue Fenster.” – “Was?” – Schahatz, wir brauchen neue Fenster!” – “WAAAS?” – “SCHAHATZ, WIR BRAUCHEN NEUE FENSTER!” – “Tutmirleid Liebling, ich kann dich nicht verstehen. Wir brauchen wohl neue Fenster!?”

Grannys Hörgeräte ließen nach. Oder ihr Hörvermögen. Oder beides. Dergestalt dass sie jede Bemerkung ihrer Gesprächspartner mit einem “Hä?” quittierte. So, dass man vor die Wahl gestellt: entweder lauter zu reden oder alles zu wiederholen. Was beides von Nachteil: Laut bringt einen aggressiven Grundton in jedes Gespräch, Wiederholung wird dem Wiederholenden ermüdend.

Unabhängig davon ist es wahrscheinlich der gesamten Nachbarschaft – so sie anwesend – unangenehm,  tagsüber ununterbrochen solche Serien wie Sachsenklinik oder Rote Dosen  mitzuhören. Aber …

“… ä Fernseher den ich nicht verstehe, nützt mir nischt.”

Logisch.

Die Hypothese “so laut isses doch gar nicht” ist schwer zu wiederlegen, wenn man als Einziger dies bemängelt.

Ein Boykott schien mir Ausweg: Eines Tages sprach ich weder lauter noch wiederholte ich einmal Gesagtes. Statt dessen trug ich stets eine Karteikarte in Griffweite, die ich nach jedem “Hä?” hochhielt.

“Du brauchst neue Hörgeräte!”

Eine Woche Streik, dann – endlich – war sie soweit und ~~~ inzwischen hat sie neue Geräte. Doch wie zum Trotz werde ich erneut immer wieder unterbrochen:

“Du musst doch nicht so laut mit mir reden!”

Und seit heute *seufz* wünsche ich mir die Ausgangssituation zurück.

Paradoxien

Ein Paradoxon – wissen wir – entsprang der altgriechischen Vokabel παράδοξον (darin enthalten: παρά [para] = neben, außer oder daran vorbei; und: δόξα [doxa] = Meinung oder Ansicht) und steht für einen scheinbar oder sich tatsächlich nicht auflösenden Widerspruch.

pinoccio-paradoxonWie der in meinem damaligen Lieblingsbuch, worin Tim Thaler sein Lachen gegen die Fähigkeit, jede Wette zu gewinnen, tauscht. Würde er wetten, dass er lachen kann, kann er entweder lachen oder hat die Wette verloren.

Bei Pinocchio wächst die Nase wenn er lügt. Demgegenüber bildet sich die Nase zurück wenn Pinocchio die Wahrheit sagt. Was geschieht, wenn er beim Nasewachsen sagen würde, dass die Nase wächst?

Ein Weizenkorn muss sterben, um zu leben.

Fried_EastSideGallery

Wenn jemand nicht vor hat, aus dem Haus zu gehen, weil sie dies nur ungern tut ~ wieso guckt er dann täglich den Wetterbericht?

Wenn jemand gern isst, weil er zu jener Generation gehört, die einst einmal hungerte ~ wieso macht er sich heutzutage das Essen nicht “so richtig” schön? So mit Serviette und so?

Wenn für die Übertragung der UEFA Champions League im ZDF 54 Millionen Euro hingeblättert werden müssen ~ wieso zum Teufel engagiert man dann Béla Réthy? Gibt es wirklich so wenig Auswahl unter Moderatoren?

Je mehr es sich verändert, desto mehr bleibt es das gleiche.

~

Nachtrag:

DDR. Mangel. Der Laden, worin es wenig gibt, heißt “Konsum”. Hier die Aufnahme eines ehemaligen Ladens aus Glienicke, Waldmüllerstraße:

2013-05-15 19.34.01

Старушка и кот

granny_kasimir

Quelle: http://vsyako.livejournal.com/34110.html

Olga Gromovo, die begabte Illustratorin, untertitelt ihre Zeichnung mit dem Satz:

“Мама, на тебя эта старушка совсем не похожа, просто нарисовала на тему твоих рассказов про кота.”

Klar: Ihrer “Mama” sieht diese Oma überhaupt nicht ähnlich. Es könnte jede Oma sein.

Das Nichtseinkönnende

Die Potsdamer Nuthestraße fungiert als Wetterscheide. Nördlich davon ist das Wetter hin und wieder oder oft anders als südlich dieser Straße.

Heute Frühstück. Granny ist ob der verbrachten Nacht ganz aufgeregt.

„Das war aber auch ein Unwetter! Junge-Junge! ~ Ohr-Uhr Blitz und Knall!“

Erfahrung lehrt: Ich hätte einfach nur „hui-ja-stimmt!“ sagen sollen. Oder „bei uns hat es ebenfalls so doll geknallt“ ~ doch vor Sonnenaufgang bin ich noch nicht auf schwindeln programmiert.

„Bei uns hat es heute Nacht nur ein bisschen geregnet.“

Was rede ich da? Was für ein Unsinn!

„DAS KANN ÜBERHAUPT NICHT SEIN! Du musst das doch gehört haben? Frag‘ mal Lara, die wird es dir bestätigen!“

Wieder zu Hause berichte ich von dem Gehörten und frage nach.

Ja, da war wohl was heut Nacht – „зарница“ – aber das war ziemlich weit weg.

„Bei Granny übern Haus soll es gewesen sein.“

Was rede ich da? Was für ein Unsinn!

„DAS KANN ÜBERHAUPT NICHT SEIN! Das hätten wir doch gehört! Ich zumindest.“