Wendezeit-Retrospektive

38. Tag

Die Übergangsgesellschaft ist endlich im Netz!

Für knapp 24 Euro kann man sie sich aus dem Netz pumpen, zusammen mit Dmitri, Nibelungen, Transit Europa und weiteren Stücken. Hinein in die Regale der iBooks-Bibliothek.

Volker Braun ist der Rachmaninow der Worte. Der Zeitgeistabbilder. Der lyrische Philosoph und Lebensgefühlerfasser.

Heutzutage braucht man nur mit dem Finger Sätze zu streicheln, die dann markiert bleiben.

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“Wir werden uns nicht verstehen, wenn wir uns nicht unsere Träume sagen”, sagt Mette auf Seite 146, “die bessere Welt ist, wo man kämpft” weiß Wilhelm.

Und:

“Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen.”

Der Kapitalismus – ahnten die empfindsameren unter uns bereits im Sommer 1989, im Maxim-Gorki-Theater sitzend und das Braunsche Übergangsgesellschafts-Szenario erlebend – ist alternativlos. Was zugleich das allerschlechteste Licht auf die Menschen wirft.

Oder anders: Zu etwas Besserem als zur Selbstzerstörung ist eine Menschheit nicht fähig.

Ich schmökere heute im Braun von damals und empfinde auch verschütteten Zeitgeist.

Fast vergessen: Die “Wende” war anfangs intellektueller Natur. Mit Fokus auf die Verbesserung der Gesellschaften. Wie man aller besser machen könnte, berieten wir uns und gossen dabei bulgarischen Rotwein in Zahnputzbecher vom VEB Plaste und Elaste.

Als die Wende später ungefährlich wurde, reihte sich jeder ein, der etwas für sich haben wollte und geriet zu Helden. Diejenigen, die heute als Wendeaktivisten gelten, waren nicht die Vordenker, sondern eher aktive Mitläufer, dagegen lösten die Klügeren jenen Stöpsel, der sie gemeinsam mit abgestandenem Wasser in den Abfluss zog.

Der Zeit-Diogenes

13. Tag

Herr Dieser und Frau Jene können sich nun doch nicht mit mir treffen. Die zugehörigen Termine sind abgesagt. “Plötzlich habe ich Zeit”, notiere ich in mein Tagebuch. Hierauf mache ich einen Punkt, drücke “Enter” und bemerke prompt den Unsinn.

Weil andere vorgeben, keine zu haben, habe ich plötzlich welche. Dabei ist doch Zeit das eigentliche Axiom unseres Lebens. Die Zeit ist uns immer und überall die selbe.

* * *

Gestern schon, nach diesem und jenem Anruf, “hatte ich Zeit”. Las derweil Volker Brauns “Zukunftsrede” auf iBooks und markierte manche der großen Sätze.

Wie den hier zum Beispiel:

“… Ich wende zögernd ein: dass die Liebe keine Zukunft hat, sie ist immer Gegenwart, oder sie ist es nicht, Liebe gibt es nur im Entstehen; das sei, für einen Zukunftsroman, ein schwieriges Sujet. …”

* * *

Zeit macht melancholisch. Das Hamsterrad ist leer, pendelt sich quietschend aus – temporärer Minimalismus. Zeit-Diogenes …

* * *

Wer Zeit “hat”, sollte es niemandem verraten. Genau dafür wird sie ihm gestohlen. Mit Gips zum Beispiel, der eine Bohrung füllen sollte; mit der Vollendung eines Kabelschachtes oder mit Rasenmähen … ~ mit allem Möglichen, was den Intentionen der Diktatur des Matriarchates entsprießt.

* * *

„Mein sind die Tage nicht, die mir die Zeit genommen.
Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein. Und nehm ich den in acht,
So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.“
Andreas Gryphius, Epigramme

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“Heute habe ich wenig Zeit” werde ich nachher lügen und mich damit beruhigen, dass dies ein guter Kompromiss.

Der Kultur-Diarrhö Antagonismus

Heute ist Samstag, der 17. März 1883.

Karl Marx wird auf dem Friedhof zu Highgate zur letzten Ruhe gelegt. Im selben Grab übrigens, in dem seine Frau fünfzehn Monaten zuvor beerdigt ward. Doch das ist belanglos.

Friedrich Engels spricht:

“Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, dass die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können …”

Recht hat er. Und: ~ … “Stuhlgang” gehört natürlich ebenfalls dazu.

~~~

Heute ist der 12. Juni 2013.

Gegenwart.

Plötzlich ist es gestern und ich sehe mich von einer banalen Frage bedrängt: Stuhlgang? – Defäkation – Was ist das nur für eine unpassende Vokabel, um das Ergebnis osmotischer Diarrhö – im Volksmund “Dünnschiss” genannt – zu benennen. “Stuhlrun” wäre angemessener, oder “Stuhlsprint”, besser: Stuhlsprintwunsch.

schlossgespraeche

So saß ich im Saal des berühmten Pankower Schlosses als Volker Braun – der Große Philosoph und Schriftsteller – befragt wurde, erinnerte mich an Tschechows “drei Schwestern”, an die “die Übergangsgesellschaft”, an Vorwendezeiten, an schöne Zitate ….

(sinng.) “Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen”

Oder:

(sinng.) “Wir werden uns nie verstehen, wenn wir es nicht lernen, unsere Träume zu erzählen.”

…. hören den Großen Meister reden und berechne in Gedanken ja doch noch die Entfernung zum nächsten Klo. “Schaffstes noch oder nich?” – DAS IST HIER DIE FRAGE.

Des Kranken Glück ist das Produkt aus Weg und Zeit ohne Hindernis.

Aber: Dafür, wie mies es mir gestern ging, hielt ich gut durch. War anwesend ohne zu stören und kam trocken nach Hause ~ ~ Ansonsten war natürlich alles schön, nichts Neues zwar, aber sehr viel Erinnerung an eine Zeit, da man sich um seine Zukunft noch keine Sorgen machte. – Aber das ist bereits ein weiteres Thema.

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Geräusch zum Ende des Textes: Klospülung.

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Literarische Retrospektive

Jetzt, wo Lara weg ist, komme ich dazu, Bücher zu sortieren

Bücher sind jene Erinnerungen, die mich als Kind begleitet haben und als solche habe ich sie aufbewahrt.

„Ali und die Bande vom Lauseplatz“ las ich gern, später folgten „Sheriff Teddy“ und „Die Söhne der großen Bärin“. Das erste Band der Trilogie – “Harka” – las ich in zwei Nächten. Eine tolle Moral hatten die Rothäute erfunden bekommen! ~ Cool.

„Egon und das achte Weltwunder“ erhielt ich als Geschenk von der Schule. Es steht eine Widmung etwas verschmiert im Einband. Dieses Buch ist nicht besonders gut, aber ich erinnere mich trotzdem. Wahrscheinlich, weil es eine erotische Szene enthält und weil es das erste Mal war, dass ich so etwas las.

Die intimsten Erinnerungen sind die nachhaltigsten.

Gern erinnere ich mich an „Betragen 4“. Dieses Buch hat mich als Kind emotional sehr geprägt. Ein Junge, der immer alles richtig machen will und dem einiges schief läuft wird von seiner Umwelt nicht als liebenswerter Mensch wahrgenommen und gerät zum Außenseiter. Beim Lesen von „Betragen 4“ habe ich zum ersten Male kapiert, dass es die Kategorien „richtig“ oder „falsch“ bei der Bewertung menschlichen Verhaltens nicht geben kann.

Zwei Kisten sind angefüllt mit Büchern, die ich während der Armeezeit las. Dort waren die Klassiker angesagt: „Der alte Mann und das Meer“, „Moby Dick“, „Der Steppenwolf“.

Pubertätskram – aber ich habe es aufgehoben. Besser gesagt: Ich kann mich nicht trennen.

Kafka kam erst während des Studiums, ebenso Heiner Müller und Volker Braun. „Kein Ort. Nirgends“ ist total zerlesen, markierte Textstellen, Eselsohren, Kaffeeflecke.

Erinnerung: Als die „Kassandra“ von Christa Wolf erscheinen sollte, wussten wir Studenten bereits, dass es im Buch Stellen geben wird, die der Zensur zum Opfer gefallen sind. Und auf wundersamer Weise verbreiteten sich die zensierten Stellen – abgeschrieben von Hand und dergestalt weitergereicht – schneller als das eigentliche Buch. Nachdem die „Kassandra“ bezahlt war – noch im Buchladen – komplettierte ich das Buch, die handschriftlichen zensierten Stellen kamen zum eigentlichen Buch.

Jedenfalls wollte ich gestern aufräumen. Und zwei Tage werde ich wohl mindestens brauchen, um alles wieder in Ordnung zu bringen.