Deeskalation

36. Tag

“Ich bin ein Deeskalator”, sage ich zu Lara, in Nachbereitung der gestrigen Veranstaltung, doch die behauptet ihrerseits, dass es einen Deeskalator nicht geben könne.

“Was du meinst, ist ein Ekskawator!”

{geschrieben “экскаватор”, auf Deutsch “Bagger”}

Nun spielen wir Herricht und Preil.

“Ich bin doch kein Eskalator! …”

{geschrieben “эскалатор”, auf Deutsch “Rolltreppe”}

“… Nein: Ich bin ein De-Eskalator. Ein Mensch der de-eskalieren kann. Wenn es das Wort (noch) nicht gibt, gibt dies nur Auskunft über die Zeit, in der wir leben. Oder über unser ukrainisch-russisches Sozialgefüge. In 20 Jahren wird Deeskalation auch in der Ukraine kein Thema mehr sein, jedes ukrainische Kindergartenkind wird dann wissen, was oder wer ein Deeskalator ist.”

Sie schmunzelt und nennt mich “Балда”, was auf Deutsch “Schafskopf” bedeutet. Oder Schwätzer.

Derweil ich bereits in der mentalen Nachbereitung:

Der Schulfreund meines verstorbenen Vaters besuchte meine Mutter und stieß nach dem machs-jut-Sagen beim Ausparken leicht an das Nummernschild eines zufällig dort stehenden Autos, dessen Besitzer – ebenfalls zufällig – auf einem Balkon gegenüber Kaffee tranken.

Der betagte Schulfreund meines Vaters nahm den Auspark-Bums nicht als solchen war und fuhr von dannen. War ja auch “nichts” passiert.

Doch insbesondere die Frau des Autobesitzers war anderer Wahrnehmung: Sie hielt den Anstoß für gewaltig, rannte kreischend auf die Straße, dabei wild gestikulierend und Worte wie “Scheiße!”, “Fahrerflucht!”, “Unfall!” und “Schaden!” rufend. Granny, noch winkend auf der Straße stehend, traf somit der Zorn fremder Leute. Ziemlich bedeppert stand sie da, bis ihr einfiel, wer “sowas” klärt:

“Sowas macht alles mein Sohn.”

Also bin ich hin, gab den Leuten die Hand, bat sie “rein”, redete, redete und redete. Hinterher waren – so schien es jedenfalls – die Geschädigten zufrieden, wir lachten gemeinsam. Der zugehöre Mann und ich versprachen sich bald gemeinsam ein Bierchen zu trinken.

“Oder Wodka”, gegenvorschlagte ich, was dessen Braut, die Geschädigte, mit süffisantem Lächeln quittierte.

Natürlich bin ich ein Deeaskalator – was sonst?

Das fahrende Ordnungsamt

An der Nuthestraße / Abzweig Alt Nowawes bemerkte ich den kleinen Ford zum ersten Mal. Anschließend achtete ich darauf: Jutestraße – Mühlenstraße – Neue Straße – die ganze Zeit fuhr das kleine Auto, an dessen Steuer ein alter Mann mit hochrotem Gesicht und wenig Kopfhaar, hinter mir her.

Am Babelsberger Park hielt ich an.

~

Nun könnte der Ford vorbei tuckern – aber nee: er bleibt stehen. Der rote Kopf kurbelt eine Scheibe runter und ruft in meine Richtung:

“Sie können mir doch nicht einfach so die Vorfahrt nehmen!”

DAS WAR ALSO DER GRUND FÜR SEINE VERFOLGUNGSFAHRT DURCH DIE HALBE STADT?! Nur um mir zu sagen, dass er irgendwo-ichweißnichtwo Vorfahrt hatte?

Zunächst bleibt seine Ansage unbeantwortet – ich bin ja auch ziemlich verblüfft – weshalb mich der rote Kopf möglicherweise für einen Ausländer hält und seine absurde Feststellung, ich könne ihm “nicht so einfach [sic!] die Vorfahrt nehmen”, mit einem belehrenden Hinweis ergänzt.

“Hier, in Deutschland, gilt nämlich “rechts vor links”!”

Ich bleibe verwirrt. Ein alte Ford – ein Ordnungsamt auf vier Rädern?! Was für ein Aktionismus! Welch Aufwand, nur um Recht zu haben und um fakultativ [sic!] zu belehren!Das hat also die Zeit aus den Deutschen gemacht: Vom Land der Dichter und Denker zum Land der Ordnungsämter.

Dabei ist mein Fahrstil deutsch, deutscher, am deutschesten. Deutsch-philosophisch sozusagen. Altdeutsch, im Sinne des KATEGORISCHEN IMPERATIVs:

“Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!”

Wenn ich also irgendwo einem alten Mann mit hochroten Kopf die Vorfahrt nehme, kann man getrost davon ausgehen, dass nichts passiert, wenn dies jeder andere ebenfalls macht.

~

Aber Immanuel Kant lebte ja bekanntlich in Königsberg, in Kaliningrad genau genommen, auf russischem Boden daher – so könnte man meinen Stil auch als “russisch-intuitiv” nennen. Was ja auch stimmt: Die Länder Osteuropas, insbesondere die Ukraine, haben meinen Fahrstil geprägt.

Dortzulande ist derjenige, der nur auf Regeln vertraut, in allergrößter Gefahr.

Gebrüllte Deeskalation

Laras Mutter ging nie einem Streit aus dem Wege, so er auf dem Weg zur Arbeit oder von der Arbeit, auf dem Heimweg, ausgetragen wurde. Mehr noch: Oft provozierte sie die Auseinandersetzung, vor allem, wenn sie in der Marschrutka fuhr.

“Sie-da, in der dritten Reihe! Sehen Sie nicht, dass eine Frau steht? Wollen Sie der nicht Ihren Platz anbieten?!”

Gab es Widerworte, zankte sie so richtig los. Was Lara, wenn sie dabei war, peinlich war.

“Aber Mama, was machst du denn? Wieso streitest du dich mit wildfremden Leuten?”

“Das” – so die verblüffende Erklärung – “mache ich nur für uns!”

Schwiegermutter-Theorie: Nur wer außerhalb der Familie jede Gelegenheit nutze, seine negative Energie zu entladen, kann es besser schaffen gegenüber Freunden und Angehörigen ein guter Mensch zu sein. So zankte sie sich mit Fremden, um die Nächsten zu schonen.

~~~

Gestern. Die Karl-Liebknecht-Straße unter der S-Bahn-Brücke immer noch gesperrt. Umleitung über Daimlerstraße, die sich nun auf Höhe Rudolf-Breitscheid-Straße staut. Hier muss man sich rasch einordnen, sonst …

Jedenfalls kommt auf der Hauptstraße ein Graukopp gefahren, hupt – derweil ich mich einordne – optisch und akustisch, empört sich offensichtlich. Kurz danach, an der Haltestelle, steht er hinter mir. Und kann nicht weg.

Ich rasch raus aus meinem Auto, Tür gebumst und dann ferche ich den Mann an:

“Sie können doch sehen, was hier los ist … ! …. @!!! … ZORN! … @Blitzundonner! … @! …”

Der Graukopp wurde immer kleiner. Bis ich meinen Vortrag mit einer rhetorischen Vermutung beendete.

“… und fast will es mir scheinen, als haben Sie die Schwere Ihres Fehlverhaltens immer noch nicht kapiert!?”

Danach war mir gut – So richtig gut! – Besser! – So wohlig warm!

Ich kam nach Hause und küsste meine Frau.

Die Kaminersche Prophezeiung

Am 11. April 2013 schrieb ich andernorts folgendes Posting:

Russische Frauen

Ich pumpte mir Olga Kaminers gleichnamiges Buch aus dem Netz. Heute zitiere ich meiner Frau daraus:
… Besonders in Deutschland, wo die Gesetze gegenüber den Fahrern sehr streng sind, musste die Russische Frau ihre ganze Kunst des Verführens in Gang setzen, um dennoch einen Führerschein zu bekommen.
… sind fast alle meine Freundinnen bei ihren ersten Fahrprüfungen durchgefallen und mussten mehrmals von vorne ….
… ich selbst hatte vier Fahrlehrer.
… Wenn sie (= Olgas Freundin) nach Hause fährt, steigt sie aus dem Wagen, lässt die Warnblinker leuchten und ruft ihren Mann an. …

Lara nickt.

“Ja, diese Russinnen. Noch nicht einmal Autofahren können sie…”

Hahaha – die Pointe ist ein doppelter Insidergag. Erstens ist Lara keine Russin, sondern Ukrainerin ~ ein Unterschied, der in der Westukraine so groß ist, wie der von Schalke und dem BVB ~ und zweitens entstand der Witz unmittelbar nachdem sie die theoretische Prüfung aus dem Stand heraus gemeistert hatte und wir – im Wissen um Laras Fahrkünste – den Praxistest für eine Formsache hielten.

Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte, denn in der ersten Prüfung fuhr sie dem DEKRA-Gutachter zu “hexisch”, was nichts anderes bedeutete als “ukrainisch-selbstbewusst”.

In der zweiten Prüfung geriet sie durch eine Frau am Steuer in eine gefährliche Situation, war dabei allerdings im Recht, denn sie hatte die Vorfahrt – aber die hätte sie nach Urteil des Gutachters der anderen Frau lassen sollen. Der Frau die am anderen Lenkrad selbige nicht beachtete. Unschuld hin oder her – MAN MUSS IN DEUTSCHLAND DEFENSIV FAHREN – die Prüfung ward abgebrochen.

Nun, mit dem dritten Anlauf, hat sie bestanden.

Was sie nicht unkommentiert lassen kann:

“Ich möchte diesen Prüfer einmal in Kiew defensiv Autofahren sehen. Im Berufsverkehr. Ich würde wetten: Wenn er dort genauso fährt wie er hier lehrt, kommt er nie von einem zum anderen Ufer des Dneprs.”

In der Ukraine defensiv Auto fahren zu wollen ist eine Vorstellung, die auch mich schmunzeln macht.