Ironische Prozesse

Nun ist einige Zeit vergangen, ich kann die Geschichte in Ruhe erzählen. Es war im Dreieck Kohlhasenbrück-Wannsee-Dreilinden, wo es sich zutrug, dass wir Moritz – einen reinrassigen Dackel – kennenlernten, sich unsere Hunde gut verstanden und dass auch wir daher – Moritz’ Frauchen und Asterix’ Herrchen – ein Stück des Weges gemeinsam gingen, dabei miteinander immer tiefer in ein Gespräch kommend.

Für den gemeinsamen Weg fanden wir ja auch genügend Themen: Der Kleist’sche Kohlhaas ist nicht unbedingt identisch mit der historischen Figur. Hier, im Dreieck, ist noch das alte Gleisbett der Stammbahn, der ersten Eisenbahnstrecke Preußens, deren Schienen nach dem letzten Großen Krieg in die Sowjetunion verbracht wurden, wie so vieles andere Sehenswerte auch. Nicht zu vergessen die Friedhofsbahn –

“Wussten Sie eigentlich dass am Bahnhof Halensee eine Leichenhalle angebaut war? Von der aus die Berliner Toten mit gesondertem Zug nach Stahnsdorf, zum Friedhof mit gesondertem Friedhofszug transportiert wurden? – Immer jeweils drei Särge, Musikanten und Trauergäste!?”

– und das Grenzgebiet der DDR zu Westberlin

Ehemaliges Grenzland in skurrilem Verlauf. Steinstücken gehört zu Berlin, wie auch “Albrechts Teerofen”. Exklaven, die bis zum Gebietsaustausch umkreist waren, vom bewaffneten Sozialismus.

Die Zeit verging schnell. Auch sie kannte Anekdoten, die sich aus geschichtlichen Sonderheiten ergaben. Es war unterhaltsam, so dass wir uns abschließend auf eine Abschiedsformel einigen, die sie – wie sich später herausstellte – sehr ernst nahm, ich aber für eine Formalie hielt.

“Wollen wir noch einmal gemeinsam spazieren gehen? – Unsere Hunde verstehen sich doch so gut?”

“Ja gern. Ich bin Frühaufsteher. Regelmäßig 7:00 Uhr sind wir hier.”

“Nächsten Sonntag?”

“Ja, gern. Es ist unser Weg, und es ist unsere Zeit.”

Eine Woche verging.

Der Zufall wollte es, dass es am folgenden Sonntag regnete. “Dass es jierschte”, wie die Menschen in Sachsen-Anhalt sagen, wenn es sehr stark regnet. Dergestalt, dass ich es ausgerechnet an diesem Sonntag für ratsam hielt noch etwas zu abwarten. Zumindest bis der Regen vorbei.

Wenig später, inzwischen bereits unterwegs, sah ich sie schon von Weitem – und zwar PITSCHNASS!

“Aber wir waren doch zu 7:00 Uhr verabredet!?”

Hierzu fiel mir als Antwort kein Text ein.

“Waren wir?” hätte ich nicht gegenfragen können. Gegenfragen finde ich doof.

“Tutmirleid” stammelte ich daher nur und hiermit hätte alles erledigt sein können, wenn nicht plötzlich…

Tschutschelo!

Wie ein Blitz schlug dieses Wort in meine Gedanken. Völlig unkorrekt, unhöflich, ja sogar abwertend – aber treffend!

Die fremde Frau, auf mich wartend, dabei völlig durchnässt, sah tatsächlich wie eine Vogelscheuche aus. Dabei ist sie überhaupt nicht hässlich, fast hübsch sogar, jünger als ich, aber nicht zu jung. Klug scheint sie zu sein, gebildet sowieso – dumm ist nur: Ich bin nicht auf der Suche, deshalb nahm ich alles nicht so ernst, wie sie möglicherweise.

Andererseits: Nur weil sich durchnässt und bibbernd aussieht wie “bestellt und nicht abgeholt”, gibt mir dies nie und nimmer das Recht gibt, sie “Scheuche” zu nennen!

Natürlich geriet ich in Konflikt mit meinen neueren inneren Werten.

Zu den neuen Vorsätzen für das Jahr passt eine Abwertung nicht, auch wenn sie noch so treffend sein sollte. So nahm ich mir vor, diese Vokabel zu streichen und sagte zu Mir, meinem Unterbewusstsein:

“Streiche Tschutschelo aus deinen Gedanken!”

Was zur Folge hatte, dass ich drei Tage lang an nicht viel mehr dachte, als an Vogelscheuchen. In allen Varianten: “Vogelscheuche” als Film, “Pugalo” als die korrektere Vokabel, Tschutschelo = Tschudo (Wunder) + chillen und anderes mehr.

“Ich fahre demnächst nach Kiew, was soll ich mitbringen?”

“Wenn Du auf der Pertrowka bist, gucke bitte nach Tschutschelo, den Film mit Nikulin als Großvater und der Kristina Orbokaite in der Rolle der Lena.”

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Dostojewski (Зимние заметки о летних впечатлениях):

«Попробуйте задать себе задачу: не вспоминать о белом медведе, и увидите, что он, проклятый, будет поминутно припоминаться»

Deutsch:

“Geben Sie sich die Aufgabe, nicht an einen Eisbären zu denken und Sie werden feststellen, dass er, der verfluchte, sich ständig immer wieder selbst in Erinnerung bringt.”

Meine Vogelscheuche ist Dostojewskis Bär.

~

Ostern. Es hört auf.

~~~

Heute ist Ostersonntag. Lara ist in Kiew. Wir skypen. “Христос воскрес!” sagt sie – “Воистину воскресе!” antworte ich. Dreimal hintereinander, so will es der Brauch. Dann das Übliche: Der Zug war voll, in Kiew hat es geregnet ~ dies und jenes auch.

“Zur Petrowka habe ich es leider bisher noch nicht geschafft.”

Ich bin irritiert.

“Zur Petrowka?”

“Na, du willst doch “Tschutschelo” haben, den Film!?”

Autor: Alex

Heute so, morgen so ...

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